ANTONIA BISIG
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 tanz die magistrale 
tanz die magistrale - beitrag zur magistrale 2004 in berlin-tiergarten
aus der sequenz: se souvenir / sich erinnern, blick auf das haus potsdamer straße 80, ort der performance
tanz die magistrale - beitrag zur magistrale 2004 in berlin-tiergarten
aus der sequenz: écouter/ hören - toucher, regarder / berühren, sehen
tanz die magistrale - beitrag zur magistrale 2004 in berlin-tiergarten
bewegungsspuren nach der sequenz: écouter/ hören - toucher, regarder / berühren, sehen
tanz die magistrale - beitrag zur magistrale 2004 in berlin-tiergarten
aus der sequenz: aller, marcher, promener / gehen, marschieren, spazieren
tanz die magistrale - beitrag zur magistrale 2004 in berlin-tiergarten, bewegungsspuren nach der sequenz:
fair en échange / sich austauschen 300 x 250 cm, mischtechnik auf papier
tanz die magistrale - beitrag zur magistrale 2004 in berlin-tiergarten
aus der sequenz: écouter / hören - toucher, regarder / berühren, sehen, Foto: Massimiliano Massa
tanz die magistrale - beitrag zur magistrale 2004 in berlin-tiergarten
aus den sequenzen: se souvenir / sich erinnern und NOCTURNE  Fotos: Massimiliano Massa
tanz die magistrale - beitrag zur magistrale 2004 in berlin-tiergarten
nach der performance: gesamtansicht spurensicherung, 2,5 x 11 m, mischtechnik auf papier
tanz die magistrale - beitrag zur magistrale 2004 in berlin-tiergarten
nach der performance: spurensicherung, bildteil links, 250 x 400 cm, mischtechnik auf papier
tanz die magistrale - beitrag zur magistrale 2004 in berlin-tiergarten
nach der performance: spurensicherung, bildteil mitte, 250 x 400 cm, mischtechnik auf papier
tanz die magistrale - beitrag zur magistrale 2004 in berlin-tiergarten
nach der performance: spurensicherung / bildteil rechts, 250 x 300 cm, mischtechnik auf papier
tanz die magistrale - beitrag zur magistrale 2004 in berlin-tiergarten
nach der performance: detail spurensicherung
tanz die magistrale - beitrag zur magistrale 2004 in berlin-tiergarten
nach der performance: detail spurensicherung


acht stunden performance : tanz die magistrale

ein künstlerisches experiment im öffentlichen raum anlässlich der
*magistrale 2004* in berlin
auf der Potsdamer Straße am und vor dem haus nr. 80

gewidmet dem 16jährigen Gulab Singh aus Pandschab/Indien, der in Berlin ohne seine Familie vor religiöser Verfolgung Zuflucht und Asyl suchen muss

(gleicher Standort der out-door-Präsentation meiner Arbeit MENSCHEN BILDER KRIEG wie bei der magistrale 2003)



Kurze Beschreibung der acht stunden performance : tanz die magistale

Die Performance ist als künstlerisches Experiment im öffentlichen Raum zu verstehen.

Sie versucht einen offenen, skizzenhaft tänzerisch-bildnerischen Dialog mit der Potsdamer Straße, dieser lauten, schweren, rastlosen Magistrale mit ihrem Gestank, ihren Dramen, ihrer Kraft, ihrer Intelligenz, ihren Möglichkeiten, ihrem Geschäftsleben, ihren hässlichen, gebrochen, verwahrlosten Seiten genau so wie mit ihrer Eleganz und Größe. Das Zwiegespräch mittels Bewegungssequenzen und Bewegungsstudien nach Laban/Bartenieff, welche sich u.a. mit dem Verhältnis des Menschen zum Raum beschäftigen, in Verbindung mit bildnerischer Spurensetzung versucht sich auf das Wesen der Potsdamer Straße zu beziehen, auf räumliche Dimensionen, Architektur, Handel und Wandel, Geschichte, Kunst und Kultur, Bedeutung, ihre aktuelle und unmittelbare Situation, also auf das Leben und die Vorgänge in und auf dieser ältesten und schwer belasteten Hauptverkehrsader der Metropole Berlin.
Die Performance bleibt jedoch nicht in der bloßen Auseinandersetzung mit diesem geschichtsträchtigen Ort stecken, sondern offeriert - der Konzeption der Veranstaltung 2004 magistrale/Kulturnacht in der POTSDAMER STRASSE folgend - eine individuelle Stellungnahme und Antwort auf und einen ganz persönlichen Umgang mit der "Magistrale Potsdamer Straße".

Der Dialog wird geführt über acht 15 bis 30 Minuten dauernde Sequenzen bzw. Kapitel, welche jeweils mit Beginn jeder vollen Stunde gezeigt werden. Dabei hat der Aspekt des Auftauchens und Verschwindens der Künstlerin eine inhaltliche Bedeutung und verweist auf das Kommen und Gehen auf einer Straße, aber auch im weitesten Sinn auf Werden und Vergehen, auf Leben und Sterben, auf Veränderung und Entwicklung. Teil der Performance ist auch alles, was sich während und zwischen den Sequenzen auf der Straße ereignet, z.B. Betreten der abgegrenzten Aktionsfläche durch Passanten, Veränderungen und Eingriffe an der Bildwand während der Abwesenheit der Künstlerin, Beschallung durch benachbarte Veranstaltungen u.ä.

Die Sequenzen sind fugenartig gearbeitet. Zuerst schafft die Peformerin Raum und Bedingungen für den angestrebten Austausch, nimmt über Sinne und Bewegung wahr und auf, was ist; sie lässt sich körperlich ein, begreift, fühlt nach, zitiert, erinnert, kommentiert, wiederholt, verarbeitet über Haltungen, Bewegungsstudien, in der Sprache des freien Tanzes, mittels Schrift und Bildspuren - Assemblagen, Frottagen, gestische Zeichnung und Malerei mit Kohle, Wachs, Acryl- und Ölfarbe - und zeigt sich als Gegenüber mit Fragen, Zweifeln, Unsicherheiten, eigenen Positionen, Bewegtheiten, Tempi, mit vorläufigen Antworten, Kreationen, mit Verletzlichkeiten, Heilungs- und Schutzsuche, mit Träumen und Erkenntnissen sowie einem persönlichen "Kredo" in Form der abschließenden Sequenz NOCTURNE, welche mit Elementen des Totentanzes spielt.


Literatur:

- Benny Härlin / Michael Sontheimer, "Potsdamer Straße", Rotbuch Verlag, Berlin 1983
- Rudolf von Laban, "Choreographie", erstes Heft, verlegt bei Eugen Diederichs, Jena 1926
- Rudolf von Laban, "Die Welt des Tänzers" - fünf Gedankenreigen, Verlag Walter Seifert,
  Stuttgart 1920
- Oskar Schlemmer, "Tanz/Theater/Bühne", Schriftreihe der Kunsthalle Wien, Ritter Verlag,
   Wien 1997
- Barbara Haselbach, "Tanz und Bildende Kunst", Modelle zur ästhetischen Erziehung,
   Ernst Klett Verlag für Wissen und Bildung

Gespräche mit Anwohnern, Passanten und Gewerbetreibenden aus aller Welt haben ebenfalls zur Erweiterung von Kenntnissen und Erkenntnissen nicht nur zu diesem Ort, seiner Geschichte und seinem Wesen beigetragen.


Einzelne, auf einander folgende Sequenzen der
acht stunden performance : tanz die magistrale

15.00    -2  préparer / vorbereiten

16.00    -1  ballayer / fegen - se souvenir / sich erinnern

17.00    0  écouter / hören - toucher, regarder / berühren, sehen

18.00    1  aller, marcher, promener / gehen, marschieren, spazieren

19.00    2  fair en échange / sich austauschen

20.00    3  se protéger / sich schützen - se remettre / sich erholen

21.00    4  rêver / träumen

22.00    5  NOCTURNE

Diese Abfolge wird durch eine Tafel angezeigt, um Interessierten einen Überblick über den Verlauf der Performance zu geben.
Zu Beginn jeder Sequenz schreibt die Performerin die entsprechenden Begriffe in Französisch und Deutsch auf die Bildfläche.
Die französische Sprache ist eine Referenz an den Preußischen Hof, seine Bemühungen und Verdienste um Kultur und gesellschaftlichen Fortschritt in all seinen Widersprüchen, ohne seine Verbrechen beschönigen zu wollen. Sie darf auch an die französische Revolution und Kolonialherrschaften erinnern. Vor allen Dingen soll sie über Festlegungen und Gewöhnungen hinaus auf ferne, andere Lebens-, Ausdrucks- und Vermittlungskulturen verweisen.


Erläuterungen zu den einzelnen Sequenzen:

Für die Sequenzen -2 bis 3 trägt die Performerin Bluse und Hose in leuchtendem Rot.

15.00    -2   Raum für Performance schaffen und markieren:
die drei Wandnischen (Pressspanplatten) des Hauses Nr. 80 werden mit festem, weiß grundiertem Papier bespannt; auf dem Trottoir davor wird eine Fläche von ca. 12,5m x 4m mit Bauband markiert;

16.00    -1   Raum herrichten und erste Verbindung aufnehmen:
die markierte Trottoirfläche wird ausgefegt; während ein Text aus "Potsdamer Straße" von Härlin/Sontheimer aus dem Boom Blaster zu hören ist, werden die Fundstücke mittels Leim auf die Papierwände aufgebracht, über Frottage Strukturen hinter der Papierbespannung sichtbar gemacht, Fotokopien von Bildern aus Geschichte, Kunst und Kultur auf die Gestaltungsfläche collagiert und mit blauer Wachsfarbe Namen und Orte notiert, welche in einem besonderen Verhältnis zur Potsdamer Straße stehen;

17.00    0   wahrnehmen, aufnehmen, nachempfinden
über Sinne, Bewegungsstudien nach Laban/Bartenieff und freie Bewegungssequenzen sowie Farbspuren: Geräusche, räumliche Dimensionen, architektonische und skulpturale Gegebenheiten sowie Bewegungsqualitäten, Tempi und Dynamiken;

18.00    1   (innere und äußere) Haltungen:
über "eingefrorene", an Skulpturen erinnernde Körperhaltungen und Positionen als auch Posen und Mimiken, welche in einer strengen Abfolge gezeigt werden, soll fragmentartig etwas vom heutigen als auch geschichtlichen Leben auf der Potsdamer Straße symbolhaft sichtbar gemacht werden; darüber hinaus beschäftigt sich diese Sequenz mit den Themen "Gehen" und "Stehen" und macht Referenzen an Beuys, Giacometti, Schlemmer, Lehmbruck, Da Vinci und die ägyptische Kunst;

19.00    2   Austausch / Dialog:
mittels eines Holzstabes, welcher mit seinen 1.61m der Körperlänge der Performerin entspricht, und an dessen Enden Pinsel befestigt sind, wird der Raum schaffende Charakter von Bewegungen und deren Richtungen optisch überhöht. Die bisher aufgenommenen und nachgezeichneten akustischen, räumlichen, architektonischen, skulpturalen Bedingungen als auch Bewegungen und Tempi sowie das Leben auf der Potsdamer Straße, einschließlich der Referenzen an Geschichte und Kunstgeschichte, werden tänzerisch und über Spurensetzungen mit roter Acrylfarbe nochmals angesprochen und mit freien, eigenen Bewegungsimpulsen aus einer Haltung annähernder körperlichen Verbundenheit und Integration beantwortet;

20.00    3   Schutz / Erholung:
aus dem Boom Blaster erklingt "Fratre", The 12 Cellists of the Berlin Philharmonic Orchestra, 1977/1980 von Arvo Pärt;
die markierte Trottoirfläche wird mittig mit Sand bestreut; mit einer Mischung von Sand und Bindemittel werden die Begriffe zart / verletzbar / Stille / langsam / auf die Bildfäche geschrieben; die Performerin wickelt sich einen Schesch, wie er von nordafrikanischen Nomaden getragen wird, um sich vor Lärm und Gestank und visuelle Reizüberflutung zu schützen; eine innige Tanzsequenz folgt, die von der Zartheit, Verletzbarkeit und Einmaligkeit des menschlichen Körpers erzählt; sie hinterlässt auf dem sandigen Grund Spuren und schließt damit, dass die Performerin die Absperrbänder entfernt und in die Bildwand integriert;

21.00    4   Traum:
aus dem Boom Blaster erklingt "Dream", 1948 von John Cage;
die Performerin trägt ein blaues langes Kleid, sie stellt zwei Eimer mit indigo und preußisch blauer lasierender Farbe in die Mitte der Tanzfläche und nimmt in jede Hand einen Quast; ein Tanz beginnt, der alle Sequenzen fragmentarisch und sehr frei zitiert, verbindet, überzeichnet und traumhafte, skurrile Elemente einwebt; die Quaste dienen als Tanzrequisiten und dazu, gestrichene, gespritzte, getupfte Bildelement in die Spurenwand einzubringen;

22.00    5   NOCTURNE:
aus dem Boom Blaster erklingt "Notturno" op.6 Nr. 2, 1836 von Clara Wieck-Schumann;
die Performerin trägt über ihrem Kleid einen sehr großen blauen Umhang aus Seide und tritt wie eine Erscheinung auf, wobei sie eine Lichtquelle mit sich trägt und diese am äußeren Rand der Fläche vor der Bildwand abstellt; ein elegischer Tanz beginnt, wobei das Seidentuch Bewegungen weit in den Raum fortsetzt und zusammen mit dem Luftzug eigene Tempi und Richtungen entwickelt; das Tuch bietet auch die Möglichkeit zu verhüllen, zu verdecken, zu verschwinden; Referenzen an Arnold Böcklin, Käthe Kollwitz, Totentanzbilder aus dem Mittelalter u.a.; schließlich wird ein Urbild für Tod in einer abstrahierten, Schädel ähnlichen Form bemüht, damit gespielt und zuletzt in die Bildfläche integriert; die Performerin verschwindet, genau so, wie sie nach jeder Sequenz verschwunden ist, um zu jeder vollen Stunde wieder aufzutauchen;


Dank an die Veranstalter, insbesondere Christian Hamm und Dr. Ralf Hartmann, Dr. Anna Grau, El HaÏ Bennen, Mastapha Khadiri, Hassan Rasa Qadri, Gulap Singh, Thomas Keller, Sibylle Omlin, Beate Spitzmüller und alle, die während dieser Aktion fotografiert und gefilmt haben.

Text: Antonia Bisig, 2004
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