ANTONIA BISIG
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 gehorsam und grässlich... ich lebe – thermonuklear 


gehorsam und grässlich gut ... ich lebe - thermonuklear
Installation, 42-teilig: Texte 30 x 21cm, Aquarell 12,5 x 18cm und Zeichnungen, 21 x 15cm, 2008-2010
Ausstellungsansichten BLINDES VERTRAUEN - Bilder als Seismographen des Unsichtbaren
Galerie Nord, Berlin, 2010
Dr. Ralf Hartmann

zu gehorsam und grässlich gut ... ich lebe — thermonuklear von Antonia Bisig

Installation, 42 - teilig
Texte, 30 x 21 cm, Aquarelle, 12,5 x 18 cm, Bleistiftzeichnungen, 21 x 15 cm
2008 – 2010

Die Arbeit wurde im Rahmen der Ausstellung "BLINDES VERTRAUEN - Bilder als Seismographien des Unsichtbaren", kuratiert von Monika Anselment und Magdala Perpinyà, 2010 in der Galerie Nord des Kunstvereins Tiergarten, Berlin zum ersten mal gezeigt.

Auch die in Berlin lebende Schweizerin Antonia Bisig setzt sich in ihrem aktuellen Ausstellungsbeitrag gehorsam und grässlich gut ... ich lebe — thermonuklear mit der medialen Repräsentation historischer Ereignisse auseinander, die sie in vielfacher Hinsicht in Beziehung zur eigenen subjektiven Existenz und Welterfahrung setzt. Als Kind der Nachkriegszeit und des kalten Krieges ist sie mit der ständigen Bedrohung durch das atomare Wettrüsten aufgewachsen und geht vor diesem Hintergrund der Frage nach, wie und ob weltpolitische Entwicklungen und Ereignisse den eigenen Lebensbereich determinieren und Einfluss auf die jeweilige Sozialisation entwickeln. Folgerichtig setzt sie die mediale Visualität der historischen Atombombeneinsätze und -tests seit 1945 sowie Äußerungen von Naturwissenschaftlern wie z.B. Robert Oppenheimer und Edward Teller mit signifikanten Fotos aus ihrer eigenen Familiengeschichte dieser Jahre gleich. Entscheidend ist die Qualität der künstlerischen Annäherung, denn Medienbilder und Fotographien werden zeichnerisch und in Aquarelltechnik transformiert und entwickeln so eine seltsam anmutende und nahezu "romantische" Unbedarftheit. Solchermaßen auf analoges Format herunter gebrochen und damit künstlerisch auf Distanz gebracht entfalten die Darstellungen einen beinah intimen Charakter, der die Verquickung von Weltgeschehen und Privatheit zu verdeutlichen mag, wenn die Bilder von "schönen" Atombombendetonationen, Überlegungen der Atomforscher zu Rüstung und Konsequenzen der Technologie neben Fotos von Geburt, Einschulung und Urlauben der Künstlerin und ihrer Familie stehen. Dieses Ineins-Stellen von Informationen reflektiert auf eine weitaus unmittelbareren Ebene zentrale Fragen von Beteiligtsein, Schuld und Verantwortung — gerade auch aus der Perspektive der neutralen Schweiz, die noch bis 1988 geheime Bemühungen unternahm, selbst Atommacht zu werden.

Der Text entstammt dem Katalog zur 2010 gezeigten Ausstellung "BLINDES VERTRAUEN - Bilder als Seismographien des Unsichtbaren" in der Galerie Nord des Kunstvereins Tiergarten, Berlin, erschienen 2010, herausgegeben von Monika Anselment und Magdala Perpinyà

Antonia Bisig

gehorsam und grässlich gut . . . ich lebe — thermonuklear

Installation, 42 - teilig

bestehend aus 3 horizontal übereinander angeordneten Reihen von Bättern,
die vertikal einer chronologisch verlaufenden Zeitschiene von 1939 bis 1964 folgen:
18 DIN A4 Bogen Packseide mit Texten
18 Aquarelle, je 12,5 x 18 cm
14 Bleistiftzeichnungen, je 21 x 15 cm, gerahmt

2008 – 2010

Die untere Reihe umfasst 14 Bleistift-Zeichnungen nach Fotos meiner Kindheits-Familie, je 15 cm x 21 cm.
Sie zeigen meinen Vater 1939 als 16-jährigen Kunstgewerbeschüler in Zürich und 2 Jahre später als 18-Jährigen, meine frisch verheiratete Mutter 1949 im Alter von 25 Jahren und mich selbst in Einzelportraits oder zusammen mit Familienangehörigen und befreundeten Kindern vom Tag meiner Taufe an Mitte März 1952 bis zu meinem 10. Lebensjahr 1962, als die USA ein einseitiges Atomwaffentestmoratorium beschlossen. Die einzelnen Zeichnungen sind mit einer Legende der dargestellten Personen als auch Informationen zu Zeit und Ort versehen und gefasst in unterschiedliche, alt erwürdige Rahmen teilweise aus Familienbesitz, ein Verweis auf das Bedürfnis, Erinnerungen zu pflegen und Augenblicke zu bewahren, die bereits der Vergangenheit angehören.

Die Mittelzeile zeigt Darstellungen vom ersten Atombombentest Trinity im Juli 1945 in Alamogordo, New Mexiko, USA, vom Atompilz über Nagasaki, dem zweiten und bisher letzten Einsatz einer nuklearen Waffe, und von der ersten Zündung einer Atombombe durch die Sowjetunion 1949 auf dem Testgelände von Semipalatinsk, Kasachstan. Ab 1951, dem Jahr meiner Zeugung, bis 1962 enthält die Serie pro Jahr eine Darstellung von einer der zahlreichen atomaren Testexplosionen. Technik: Aquarell auf Bütten. Format: je 12,5 cm x 18 cm.
Die Entscheidung für Formatgröße und Art der Maltechnik geht auf die Überlegung zurück, dass die Darstellungen der Explosionen keinesfalls monströs wirken oder zum Voyeurimus verleiten sollen, bildnerisch jedoch deutlich Raum entfalten. Die Aquarelltechnik transportiert etwas von ihrer scheinbaren Harmlosigkeit und kreuzt mit eben dieser Unterstellung das eigentlich Grauenhafte des abgebildeten Gegenstandes. Alle Blätter enthalten entsprechende Informationen über Name, Zeit, Ort, Sprengkraft, Besonderheit und Urheber der jeweiligen Explosion.

Obere Reihe: 18 DIN A4 Bogen aus Packseide bilden die obere Reihe, beschrieben mit der Kontinental-Type einer Schreibmaschine Marke Ideal aus den 1930er-Jahren. Zu lesen sind Zitate zu Entwicklung und Einsatz atomarer Waffen sowie Äußerungen von Atomwissenschaftlern und einer Sekretärin Oppenheimers, von Militärs und Politikern. Kommentare über nukleare Folgeschäden entstammen einem amerikanischen TV(?)-Filmdokument aus den 50er Jahren.

Wie bin ich zu diesem Thema gekommen?

In einer Fernseh-Serie zur Weltgeschichte wurden die sich ausbreitenden Atompilze über Hiroshima und Nagasaki gezeigt. Beim Anblick der über den relativ kleinen Monitor vermittelten Bilder dieser gewaltigen Detonationen stockte mir der Atem und ich empfand ein überaus unangenehmes Druckgefühl in meinem ganzen Körper. Die Filmdokumente der Explosionen vermittelten etwas zutiefst Verstörendes und Ängstigendes. Eine von Menschen verantwortet Entartung der Natur, war mein spontaner Gedanke.

Gerade weil ich solche Dokumente nicht zum ersten Mal gesehen habe, war ich erschrocken und erstaunt über meine körperlichen Reaktionen, ausgelöst durch bloße Fernsehbilder.

Ich fing an, mich über die Geschichte der Atombombe zu informieren. Mir wurde klar, dass ich mit Jahrgang 1952 im wörtlichen Sinn ein Kind des thermonuklearen Zeitalters bin, denn genau in diesem Jahr, etwa neun Monate nach meiner Geburt, wurde die erste Wasserstoffbombe (Teller-Design) gezündet, die Waffe mit der größten Zerstörungskraft aller Zeiten.

Diese Erkenntnis hat mich aufgewühlt, empört und zum Nachdenken gebracht.

  - Wie verwoben, geradezu verfilzt mit weltpolitischen Entwicklungen ist mein Leben und
  wie genau sehen diese Verflechtungen und Durchdringungen aus?
  - Was bedeutet für mich in das Atomzeitalter hineingeboren zu sein?
  - Was, dass ich im Kalten Krieg aufwachsen bin, in dieser Zeit gelebt und dessen Ende
  - ausgerechnet in Berlin - miterlebt habe?
  - Wie bestimmen und beeinflussen nukleare Bewaffnung und Atomindustrie mein Leben?
  - Wie hängen die gesellschaftlichen, weltpolitischen, wirtschaftlichen, klimatischen,
   kulturellen Umbrüche mit der Entwicklung der Atombombe zusammen?
  - Wie wirken sich diese Vorgänge und Umstände auf mein Leben, meine Persönlichkeit,
   meine Entwicklung, meine Bedürfnisse und Interessen, mein Fühlen, Denken,
   Handeln, meine Beziehungen zu anderen Menschen, zur Umwelt, zur Natur aus?

  - Welche Bedeutung hat für mich die Tatsache die ganze Zeit die tödliche Gefährdung
   durch die nukleare Bedrohung auch über Fallout von weltweit mehr als 2000
   atomaren Tests zu Wasser, zu Land, ober- und unterirdisch, in Atmosphäre,
   Stratosphäre und im All mehr oder weniger zu verdrängen?
  - Was ist mit dem Wissen um die Gefahren, welche von gelagerten, entsorgten,
   verlorenen, gestohlenen Atomsprengkörpern als auch von Kernkraftwerken
   und deren Hinterlassenschaften ausgehen?

  - Was hat Wissenschaftler, Politiker und Militärs dazu getrieben diese Waffe zu entwickeln
   und einzusetzen? Ich begnüge mich nicht mit stereotypen Antworten wie: "Angst vor
   Hitler, Demütigungserfahrung der USA durch den Angriff Japans auf Pearl Harbor,
   Angst vor Stalin, Machtdemonstration der USA."
  - Was genau hat Truman dazu gebracht, diese Waffe an Hiroshima und Nagasaki testen
   zu lassen, obschon ihm die verheerende Wirkung einer Atomexplosion nach
   damaligem Wissen bekannt und er vom Geheimdienst über die Bereitschaft Japans
   einer Kapitulation zuzustimmen informiert war?

  - Warum sind die amerikanische Regierung und deren Berater nicht dem dringlich
   vorgetragenen Appell vieler hundert Atomwissenschaftler gefolgt schon 1945 das
   Know-how über atomare Waffen weltweit zu veröffentlichen und eine internationale
   Atomenergiebehörde einzusetzen, um ein Wettrüsten zu verhindern.
   Mit der gängigen Antwort: "Aus wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen.", gebe
   ich mich nicht zufrieden.

  - Auf welche Weise kommen Menschen, Entscheidungsträger, die offensichtlich nicht
   darüber nachdenken konnten/können und wollten/wollen, in wie weit ihr
   Agieren für die gesamten Menschheit weit reichende, unumkehrbare Prozesse einleitet,
   zu solchen Entschlüssen?

...

Während der Arbeit an meinem Projekt

gehorsam und grässlich gut . . . ich lebe — thermonuklear

erfuhr ich von einem Historiker dass die Schweiz, deren Bürgerin ich bin, von 1946 bis 1988 ernsthafte Bemühungen unternahm, Atommacht zu werden.

Antonia Bisig, im September 2010
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